Algorithmen in der Medizin - wie dient das den Patient:innen?

Stand:
Krebs diagnostizieren, Herzinfarkte vorhersagen oder auch Corona-Infektionen erkennen – Algorithmen sind in der modernen Medizin längst angekommen. Sie können die Arbeit von Ärztinnen und Ärzten ergänzen und bei der Entscheidungsfindung unterstützen.
Eine Ärztin sitzt an einem Tisch und arbeitet mit Laptop und Tablet.

Das Wichtigste in Kürze:

  • Algorithmen werten große Mengen an Patient:innendaten aus.
  • Sie erkennen Muster, die Ärztinnen und Ärzte nicht sehen können.
  • Auch für Verbraucher:innen gibt es digitale Anwendungen in Form von Apps zur Diagnostik und Therapie von Erkrankungen. Diese Apps sind sehr unterschiedlich und nicht immer gut.
  • Der Einsatz von Algorithmen in der Medizin ist ein Fortschritt, der uns vor gesellschaftliche Herausforderungen stellt.
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Was können Algorithmen und wie nützen sie uns?

Algorithmen können einiges und manches davon besser als Ärztinnen und Ärzte. Das liegt daran, dass die eingesetzten Algorithmen häufig selbstlernende Systeme sind, die man mit einem riesigen Paket an Patient:innendaten füttern kann. Algorithmen lesen riesige Mengen an Patient:innendaten aus. Eine vergleichbare Menge an Daten könnte kein Mensch verarbeiten. Deshalb können Algorithmen Muster erkennen, die Menschen verborgen bleiben.

Für die Medizin bedeutet das: Ein Algorithmus kann Wahrscheinlichkeiten erkennen und berechnen, von denen eine Ärztin oder ein Arzt vielleicht nicht einmal wissen, dass es sie gibt.

Algorithmen retten Herzinfarkt-Patient:innen

Ein Beispiel: Bei einem Herzinfarkt zählt jede Minute. Je länger das Herz nach einem Infarkt ohne Sauerstoff bleibt, desto größer ist die Gefahr, zu sterben. Das bedeutet umgekehrt auch: Je früher man einen sich anbahnenden Infarkt erkennt, desto höher sind die Überlebenschancen.

Deshalb werden Risikopatient:innen in Krankenhäusern von Medizintechnik überwacht, die bei Kammerflimmern oder einem Infarkt im Anfangsstadium Alarm schlägt. Und trotzdem kann nicht jeder Infarkt verhindert werden. In den USA erleiden bis zu 400.000 Menschen jährlich einen Herzinfarkt, obwohl sie bereits in einem Krankenhaus sind.

In einem Krankenhaus nördlich von Detroit hat ein Algorithmus die Sterberate unter den Herzpatient:innen innerhalb von 4  Jahren auf ein Drittel reduziert. Die neue Software überwacht den Blutdruck, Puls, Temperatur sowie Herz- und Atemfrequenz. Daran ist an sich nichts neu. Das System betrachtet aber, anders als bisherige Technik, nicht nur die einzelnen Werte, sondern auch ihr Zusammenspiel.

Während früher der Alarm anschlug, wenn ein Wert signifikant aus der Reihe fiel, warnt das neue System Ärztinnen und Ärzte schon deutlich früher: Nämlich dann, wenn sich bei mehreren Werten gleichzeitig Veränderungen ergeben, auch wenn die Schwankungen nur geringfügig sind. Eine computerbasierte Auswertung von 20.000 Patient:innendaten hatte im Vorfeld ergeben, dass schon einige Stunden vor dem lebensbedrohlichen Ereignis solche Muster in den Gesundheitswerten erkennbar sind.

Auch in Deutschland und den Niederlanden wird an der auf Algorithmen basierten Prävention von Herzerkrankungen geforscht. Ziel: Eine Smartphone-App, die Herzrhythmusstörungen erkennen kann. Dazu werden die Blutgefäße regelmäßig mit dem Licht des eigenen Smartphones durchleuchtet.

Von Diagnose bis Prognose – das leisten Algorithmen in der Medizin

Digitale Algorithmen sind in unserem Medizinsystem längst angekommen. Sie lesen riesige Mengen an Bilddaten aus und können so Krebs- und sogar Corona-Infektionen erkennen. Bei schwer erkrankten Patient:innen gibt es Modelle, die aufgrund der vorhandenen Gesundheitsdaten berechnen können, wie lange sie voraussichtlich noch leben werden.

Auch in der Therapie kommen Algorithmen zum Einsatz. Sie können zum Beispiel bei Menschen mit Leberkrebs dazu beitragen, dass die Operation effektiver und sicherer wird. Auf der Basis eines 3-D-Modells berechnen sie im Vorfeld optimale Schnitte und besonders kritische Abschnitte.

Oder sie optimieren in Implantaten das Hörerlebnis für Menschen mit Hörschäden. Für Menschen mit Diabetes gibt es mittlerweile eine Smartphone-App, die als persönlicher Assistent fungiert. Ein kleiner Sensor unter der Haut sendet alle 5 Minuten Blutzuckerwerte an die App. Sobald der Wert den individuellen Höchst- oder Tiefstwert unterschreitet, gibt die App ein Alarmsignal.

Mehr darüber, wo Algorithmen bereits eine Rolle spielen, erfahren Sie in der Bertelsmann-Studie Algorithmen in der Gesundheitsversorgung.

Auf diese Punkte müssen wir als Gesellschaft achten

Klar ist: Algorithmen verändern unser Medizinsystem. Sie erkennen schwer zu diagnostizierende Krankheiten, optimieren Therapien und retten im Zweifelsfall Leben. Aber all das ist mit einem Preis verbunden. Denn wenn wir KI in unserem Gesundheitssystem zulassen, dann sollten wir uns als Gesellschaft über einige Punkte klar werden.

Dilemma 1: Arzt oder Algorithmus?

Wenn wir einen Algorithmus einsetzen, wäre es dann nicht gut, wenn wir wüssten, dass er tatsächlich besser ist als die Ärztin oder der Arzt? Die Antwort auf diese Frage ist alles andere als einfach. Komplexe Algorithmen, die mit einer selbstlernenden künstlichen Intelligenz ausgestattet sind, würden zum Beispiel eine große Zahl an Herzinfarkten erfassen. Sie würden erkennen, dass nicht nur die Veränderung der vorgegebenen Werte eine Rolle spielen kann. Auch wenn ein weiterer Faktor sich verändert, steigt offensichtlich das Risiko. Die künstliche Intelligenz würde daraufhin selbstständig den einfachen (alten) Algorithmus anpassen.

Das Problem: In diesem Fall wissen wir oft nicht, wie die künstliche Intelligenz lernt. Wir können nicht beurteilen, ob sie die gleichen oder andere Parameter als Mediziner:innen berücksichtigen. Wir können nur das Ergebnis vergleichen. Dazu bräuchte es allerdings belastbare Studien. Und: Algorithmen sind auch fehleranfällig. Sei es, weil sie von Menschenhand programmiert sind oder, weil sie selbst "interpretieren".

Es gibt allerdings nicht in allen Fachgebieten ausreichend Studien, die Algorithmen und die Arbeit von Ärzt:innen vergleichen. Die, die vorhanden sind, erfüllen nicht immer die strengen Kriterien, die für aussagekräftige medizinische Untersuchungen eigentlich gelten. Obwohl die Evidenz nicht überall ausreichend ist, kommen Algorithmen bereits in vielen Gebieten zum Einsatz. Es könnte sinnvoll sein, Kriterien für die Qualität von Algorithmen zu definieren.

Zudem sollte das eine nicht gegen das andere ausgespielt werden. Algorithmen können ärztliches Wissen und ärztliche Entscheidungen ergänzen. Sie können unterstützen. Beim Erkennen seltener Erkrankungen mögen sie überlegen sein, in der Überwachung kranker Patienten sind sie sehr nützlich. Aber sie ersetzen nicht das Vertrauen und das gewachsene Verhältnis zwischen Arzt oder Ärztin und Patient:in. Zumal viele Erkrankungen psychosomatische Anteile haben, die aufmerksame Ärzt:innen, die ihre Patient:innen schon lange kennen, erkennen könnten.

Dilemma 2: gesellschaftliche gegen individuelle Interessen

Der Einzelne und die Gemeinschaft haben nicht immer die gleichen Interessen. Bestes Beispiel: Sie müssen eine medizinische Behandlung selbst bezahlen, die im Budget Ihrer Krankenkasse nicht drin war.

Um als System für alle funktionieren zu können, müssen Krankenkassen einen Leistungskatalog definieren. Wenn sie alles für jeden übernehmen würden, würden die Kosten explodieren und niemand hätte mehr Schutz im Krankheitsfall. Trotzdem war Ihr Interesse an einer bestimmten Behandlung oder einem bestimmten Medikament möglicherweise sinnvoll und berechtigt.

Was also tun, wenn ein Algorithmus berechnet, dass die Therapie für einen unheilbar kranken Menschen zu teuer ist, auch wenn sie ihm zusätzliche Lebensmonate schenkt? Die technischen Möglichkeiten dazu sind bereits da. Für uns als Gesellschaft ist die Antwort auf diese Frage dagegen nicht klar.

Dilemma 3: Sie haben ein Recht auf Nichtwissen

Nehmen wir an, ein Algorithmus könnte für Sie berechnen, mit welcher Wahrscheinlichkeit Sie wann erkranken oder sterben könnten. Möchten Sie das wissen? Einige Menschen beantworten diese Frage mit einem klaren "Ja". Sie möchten sich vorbereiten, ihr Leben anpassen, therapeutische Optionen in Erwägung ziehen und alles tun, um die Wahrscheinlichkeit zu senken.

Andere dagegen möchten das nicht wissen. Sie wollen sich nicht von Wahrscheinlichkeiten verrückt machen lassen. Wie könnte also ein gesellschaftlicher Kompromiss aussehen, der es einigen erlaubt, die Möglichkeiten der modernen Medizin zu nutzen, aber nicht alle dazu verpflichtet?

Dilemma 4: Werde ich durch Algorithmen in der Medizin zum gläsernen Patienten?

Im November 2019 wurde bekannt, dass ein amerikanischer Krankenhausbetreiber seine kompletten Patient:innendaten auf einer Cloud-Plattform des Internetriesen Google gespeichert hatte. Mediziner:innen und Patient:innen waren ahnungslos. Doch damit die Medizin von Algorithmen profitieren kann, braucht sie große Datenmengen, die sie auswerten kann.

Speichermöglichkeiten und wirtschaftliches Interesse an diesen Daten haben vor allen Dingen private Unternehmen. Medizinische Daten zählen aber zu den hochsensiblen Daten. Wenn wir erlauben, dass private Unternehmen bei der Verarbeitung dieser Daten mitmischen, ist das mit datenschutzrechtlichen Risiken verbunden. Aus Gesundheitsdaten lassen sich weitreichende Schlüsse ziehen. Ob Versicherungen, Arbeitgeber, Banken oder pharmazeutische Unternehmen – sie alle haben Interesse daran.

Das könnte zum Beispiel bedeuten, dass

  • Sie einen Job nicht bekommen, weil Sie gesundheitlich nicht belastbar genug sind,
  • Sie keinen Kredit für Ihre Eigentumswohnung erhalten, weil die Bank nicht glaubt, dass Sie bis 2060 überhaupt noch leben oder
  • Ihre Krankenversicherung einen Risikozuschlag erhebt, weil Ihr Lebenswandel zu belastend ist.

Ich bin gegenüber Algorithmen skeptisch. Wie kann ich mich schützen?

Das Gesundheitssystem steht an einem Wendepunkt. Es wird in den kommenden Jahren immer digitaler werden. Das bedeutet aber nicht, dass Sie nichts tun können.

Tipp: Nicht alle Gesundheitsdaten landen unfreiwillig auf den Servern großer Firmen. Viele Verbraucher:innen geben Ihre Daten auch freiwillig preis. Wenn Sie in Sachen Gesundheit und Fitness Ihre Daten also nur sparsam preisgeben, zum Beispiel indem Sie keine Wearables oder Fitnessapps nutzen, können Sie Ihre Daten schon gut schützen. Denn auch aus diesen scheinbar harmlosen Daten können wichtige Schlüsse über Sie gezogen werden.

Quellen:


Müller-Eiselt, Ralph. 2020. Algorithmen zum Überleben. Algorithmenethik / Bertelsmann Stiftung. Zuletzt abgerufen am 29.09.2020.

Jannes, Marc et al. 2018. Algorithmen in der Gesundheitsversorgung. BertelsmannStiftung & cologne center for ethics, rights, economics, and social sciences of health (ceres). Zuletzt abgerufen am 29.09.2020.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 08.05.2020. Sind Algorithmen tatsächlich die besseren Ärzte? Zuletzt eingesehen am 29.09.2020.

Das Motiv zeigt viele verschwommene Zeilen Code.

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